DAS TOR ZUR VERGANGENHEIT
Viele Menschen interessieren sich für ihre Herkunft. Unsere Autorin zeigt, wie man mit Hilfe eines Ahnenforschers seinen Vorfahren auf die Spur kommt. Ihre Reise führt durch Archive zum Ursprung einer Familienlegende.
Text Nicole Tabanyi
Zum Glück waren meine Vorfahren so eitel und liebten es, fotografiert zu werden. Vor allem mein Ururgrossvater, Xaver Ott, um den es hier im Speziellen gehen soll, war ganz versessen auf das Blitzlicht. Und so reiste er im Jahre 1867 von Bischofszell TG nach Paris, um zwei Dinge zu erledigen: um für eine Daguerreotypie - den Vorläufer der Fotografie - zu posieren und um ausserdem das damals viel beschworene Lachgas zu besorgen.
Denn in Bischofszell verwirklichte sich der energische, aber klein gewachsene Mann und Vater von acht Kindern (siehe Foto links, Mitte) schon seit einiger Zeit in einem «chirurgischen Coiffeursalon», wie wir heute sagen würden. Da schnitt er Haare, stutzte Bärte, zog Zähne. Und wenn es nötig war, griff er zum Skalpell. Diese Eingriffe sollten unter dem Einfluss von Lachgas, einem Narkosemittel, angenehmer werden. Also zog er los, mit seinem besten Anzug im Gepäck. Setzte sich im Pariser Atelier des damals bekannten Daguerreotypisten Millet auf den Fauteuil - und besorgte sich zudem ebendieses Lachgas, von dem er sich so viel versprach.
Zur gleichen Zeit fand nämlich in Paris eine Weltausstellung statt, an der Zahnärzte aus Amerika Behandlungen mit Lachgas demonstrierten. Als Schweizer Zahnarzt mit Berufserfahrung mischte sich Xaver Ott geschickt unter die Ärzteschar, fachsimpelte mit ihnen - und kam so zu seinem Lachgas. Nun kommt die Legende, die man sich seit ewigen Zeiten in unserer Familie erzählt. Das Missgeschick. Der Unfall. Der Schönheitsfehler: die Tote im Frisiersalon. «Noch bevor dein Ururgrossvater ihr den Eiter aus der Kieferhöhle herauskratzen konnte, lief sie blau an, kippte vom Stuhl und starb an einer Überdosis Lachgas», erzählte mir meine Grossmutter erstmals, als ich fünf war. «Welche Frau?», fragte ich entsetzt. «Keine Ahnung, wie sie hiess», unkte meine Grossmutter. «Sie war klein und schmächtig und hatte in ihrem Leben nicht viel Glück.» Und da ich diese Geschichte mit der «mysteriösen Toten» so schrecklich faszinierend fand, wollte ich sie immer wieder hören.
Das Erbe der Ahnen
Heute, fast 40 Jahre später, frage ich mich: Hat es sich wirklich so zugetragen? Was daran ist wahr, was Dichtung? Und welche Fakten lassen sich nach so langer Zeit in Erfahrung bringen? Mit diesen Fragen begebe ich mich auf Spurensuche und öffne das Tor zur Vergangenheit. Siehe da: Ich bin nicht allein. Viele Menschen interessieren sich für das Leben ihrer Ahnen. Sie möchten wissen, ob ihre Vorfahren Bauern waren oder als Söldner in ferne Kriege ziehen mussten. «Oder kommt ihr Jähzorn, von dem das Dorf noch heute spricht, vielleicht daher, dass sie Jäger und Metzger waren?», rätseln Menschen, die Genaueres über ihre Herkunft wissen möchten. Wer nämlich in Erfahrung bringt, woher er kommt, versteht vielleicht auch besser, wer er ist, stellen Ahnenforscher und Schicksalspsychologen als Lohn dieser Suche in Aussicht.
Schliesslich haben uns die Ahnen ein Erbe hinterlassen, das uns prägt – oder das noch unerahnt in uns schlummert. Zum Beispiel Talente und Begabungen, die wir momentan nur erahnen können. Die aber nur darauf warten, aus ihrem Dornröschenschlaf erweckt zu werden. Andere Menschen reisen in die Vergangenheit, um ein verschollen geglaubtes Vermögen aufzuspüren. Oder um einem Familienmythos nachzugehen. So wie ich. Unterstützt werden sie dabei von Familien- und Ahnenforschern, sogenannten Genealogen.
Sie sind es, die sich durch die langen Korridore der Archive quälen, staubtrockene Akten sichten und in Kirchenbüchern nach Taufen und Eheschliessungen suchen: alles im Dienste der Familienforschung- damit sie Ast um Ast im Stammbaum zeichnen können.
Erst der dritte Genealoge, den ich kontaktiere, hat Zeit für mich. «Ist Ihre Familie katholisch oder reformiert?», möchte Mario von Moos von mir wissen. «Katholisch», sage ich. «Bei den katholischen Familien ist es immer schwieriger, etwas herauszufinden, weil die Pfarrherren nicht so fleissig im Festhalten von Daten waren », klärt mich der Familienforscher auf. «Sie wollten eben für den Himmel etwas ausrichten und haben das Irdische oft ausser Acht gelassen.»
Im zwinglianischen Zürich stösst man in Kirchenbüchern auf pikante Details: Nicht selten hat ein Pfarrer notiert: «Das Kind kann lesen», «es ist in einer ordentlichen Haushaltung». Oder aber: «Es kennt die Zehn Gebote noch immer nicht», «der Vater ist ein Säufer». Nach solchen Einträgen sucht man in katholischen Gegenden vergebens. Im Büro für «Genealogie und Erbenermittlung» von Manuel Aicher in Dietikon ZH, wo Mario von Moos als Genealoge wirkt, strecken sich die Aktenberge bis zur Decke hin. Doch das ist nicht alles: Mittels Computer kann von Moss auf 200 000 Hinweise zurückgreifen, die ihm beim Erstellen eines Stammbaumes nützlich sind. Auch sogenannte Ahnentafeln, bei denen nur direkte Vorfahren - also Vater und Mutter, Grosseltern und Urgrosseltern - erfasst werden, erstellt er auf Wunsch.
Auf den Spuren der Ahnen
In meinem Fall ist das nicht nötig. Mein Grossvater Anton Weber hat mir eine Ahnentafel hinterlassen. Darin sind bis zur Geburt seines Ururururgrossvaters Jakob Weber alle Vorfahren mit Geburt, Heirat, Beruf und Todesdatum aufgelistet. Auch die Familienfotos hat mein Grossvater gesammelt und sie in Alben eingeklebt: in seine ganz persönliche Ahnengalerie. Dank dieser Hinterlassenschaft weiss ich, wann und wo Xaver Ott gelebt hat. Wer seine Frau und Kinder waren. Und wie sie aussahen. «Wenn wir Pech haben, war er ein einflussreicher Mann und konnte den Lachgas-Unfall vertuschen», meint Mario von Moos.
Wo fangen wir die Suche nach Xaver Ott und seiner vermeintlichen Tragödie also an? «in vielen Familien geistern Schreckensgeschichten herum», sagt Mario von Moos. «Manche sind wahr, andere bleiben für immer ein Rätsel. Ich kann Ihnen darum nichts versprechen.» Also gilt es Folgendes abzuklären: Gab es einen Prozess? Wurde Xaver Ott verurteilt? Stand etwas in der Zeitung darüber?
Wir teilen uns die Arbeit auf: Mario von Moos kümmert sich um die Prozessakten, ich mich um die Zeitungen von 00 damals. Nach sechsstündiger Suche in der Kantonsbibliothek von Frauenfeld entdecke ich ein Inserat meines Ururgrossvaters. Aufgegeben in der «Bischofszeller Zeitung» am 26. September 1877. «Er ist kein Phantom! Es gibt ihn!», schreie ich in den Telefonhörer, weil ich die Freude über den Fund gleich jemandem mitteilen muss. Doch vom Prozess keine Spur. Bald findet Mario von Moos Erstaunliches: Mein Ururgrossvater schmorte nicht etwa im Gefängnis vor sich hin - nein, er machte Karriere. Wie aus Akten des Staatsarchivs Thurgau hervorgeht, war er an der Gründung der Schweizerischen Zahnärzte-Gesellschaft massgeblich beteiligt. Und auch in späteren Publikationen taucht sein Name immer wieder auf. Seine Leidenschaft für Zähne hat er an seine drei Söhne und einen Enkel weitergegeben: Alle waren Zahnärzte. Die Familie Ott ist eine Zahnarzt-Dynastie. Und je länger ich das Foto von Xaver Ott betrachte, desto mehr Ähnlichkeiten entdecke ich zwischen ihm und mir. Nur dass ich für diesen Beruf womöglich ungeeignet wäre. Obwohl ich weiss, dass man mit Lachgas - selbst heute noch - viele Patienten heiter stimmt.