Die lebenden Äste finden
Wie ein Detektiv
Beruf: Ahnenforscher Der Jurist und Genealoge Manuel Aicher fand schon oft Erben, nachdem die behörden die Suche aufgegeben hatten.
Bildunterschrift (im Original, siehe PDF): Ahnenforscher Manuel Aicher präsentiert den Ausdruck eines Stammbaums: «Was nicht sicher belegt ist, soll man offen lassen.»
Hans Fischer (Name von der Redaktion geändert) war in Zürcher Supermärkten eine bekannte Erscheinung. Samstags nach Ladenschluss tauchte der ältere Clochard jeweils auf und durchsuchte die Resten nach Esswaren. Um so grösser die Überraschung, als die Behörden nach seinem Tod ein Vermögen von 400 000 Franken entdeckten. Die Suche der Behörden nach möglichen Erben verlief im Sand. Denn die Angaben über die Herkunft von Fischer, der allein gelebt hatte, waren nur spärlich: in den dreissiger Jahren war er aus Berlin eingewandert. Das Nazi-regime hatte ihm die Staatsbürgerschaft aberkannt, und er war seither staatenlos geblieben. Als der Jurist und Genealoge Manuel Aicher aus Dietikon (ZH) den Erbenruf im Amtsblatt entdeckte, begann er die Erben auf eigene Faust zu suchen. In den Akten eines Berliner Standesamtes entdeckte er aus der Zeit um die Jahrhundertwende die Heiratsurkunde von Fischers Eltern. Bereits dies war nicht ganz einfach: «in Berlin gab es damals 93 Standesämter.»
Fischer war, fand Aicher heraus, ein Einzelkind. Die Eltern lebten nicht mehr, ebensowenig ihre Geschwister. Es galt nun, die Nachkommen der Geschwister der Eltern zu suchen, die als Nächste erbberechtigt waren. Mit damaligen Berliner Adressbüchern, Akten von anderen Erbschaftsfällen und vielen weiteren Quellen konnte Aicher schliesslich acht Erben ausfindig machen. «Sie waren zuerst verblüfft», schildert er ihre Reaktion. Kein Wunder: dass ein Verwandter namens Hans Fischer existiert hatte, erfuhren sie erst von ihm. Später freuten sie sich. «Das war für sie wie ein Lottogewinn ohne Einsatz.»
Gut einen Monat Arbeit steckte Aicher in die Suche nach Fischers Erben. Ungefähr ein Dutzend solcher Erbfälle greift er pro Jahr auf. Er sucht auch verschollene Verwandte oder leibliche Eltern von adoptierten Personen. Daneben berät er für die Zentralstelle für Genealogie Hobbyforscher. Für die Familienforschung begann er sich bereits als Jugendlicher zu interessieren. Am stärksten fasziniert ihn das detektivische Element der Ahnensuche.
Er hat unzählige Forschungsarbeiten von Profis und Amateuren gelesen. Die Qualitätsunterschiede seien sehr gross: «Viele der genealogischen Arbeiten von Amateuren sind ausgezeichnet, es gibt aber auch solche, die diesen Namen nicht verdienen.» Fehler geschehen zum Beispiel, weil Einträge falsch gelesen werden. Bei aufwändigeren Forschungen sei auch für Amateure eine wissenschaftliche Grundhaltung nötig. Da runter versteht er nicht einen akademischen Titel, sondern kritische Distanz zu den Quellen und zur eigenen Arbeit. «Man sollte sich überlegen, welche Fragen man klären will, und die Forschungsresultate immer wieder prüfen.»
Wichtig ist der Mut zur Lücke. «Was nicht sicher belegt ist, soll man offen lassen oder mit Fragezeichen versehen.»
Ahnenforschung ist oft verknüpft mit der Frage nach der eigenen Identität. Wohl deswegen ist es in den USA ein äusserst populäres Hobby. Mehr als die Hälfte der Anfragen an die Zentralstelle für Genealogie stammt denn auch aus Übersee. Aber auch in der Schweiz habe das Interesse seit dem Fall der Berliner Mauer zugenommen, stellt Aicher
fest.